S

SEMRAU, A. (2010)

Untersuchung zur Bovinen Virusdiarrhoe / Mucosal Disease (BVD/MD) bei Kleinkantschilen.

Bovine Viral Diarrhea/Mucosal Disease (BVD/MD) in Lesser Mousedeer.

IZW (Betreuung: Prof. Dr. H. Hofer) und Fachbereich Veterinärmedizin der FZ Berlin.
Mitwirkung Prof. K. Eulenberger, Zoo Leipzig

Volltext PDF

Zusammenfassung:

Beim Hausrind werden nach Infektion mit dem Bovinen Virusdiarrhoe Virus (BVDV) verschiedenste Verlaufsformen beobachtet, von subklinischen Infektionen bis hin zu akuten Krankheitsverläufe mit Todesfolge. Im Mittelpunkt steht jedoch die Infektion empfänglicher, tragender Rinder, die zur Fruchtresorption, zum Abort, zu kongenitalen Defekten oder zur Geburt persistent infizierter (PI) Tiere führt. Kernproblem der persistierenden Infektion ist, dass die virämischen Tiere klinisch zunächst meist gesund erscheinen, den Erreger aber lebenslang und in großen Mengen ausscheiden. Nach Superinfektion von PI Tieren mit dem zytopathogenen (zp) Biotyp des BVDV kann die sporadisch zu beobachtende, fatale Mucosal Disease (MD) ausgelöst werden. Der serologische Nachweis sowie Isolierung von BVDV gelang bei einer Vielzahlunterschiedlicher Arten von freilebenden wie in menschlicher Obhut gehaltenen exotischen Wiederkäuern. Hinsichtlich der MD gibt es zwar einige klinische Beschreibungen, jedoch keine bestätigten Nachweise. Die Fragestellung des experimentellen Teils der vorliegenden Arbeit war deshalb, ob ein persistent mit nicht zytopathogenem (nzp) BVDV infizierter Kleinkantschil nach Superinfektion mit einem zp BVDV an MD erkranken würde. Bei dem Versuchstier handelte es sich um einen vierjährigen, männlichen Kleinkantschil aus der Zuchtgruppe des Artis Royal Zoos, Amsterdam, in der in 2002/2003 acht von elf Individuen als PI diagnostiziert wurden; alle PI Tiere waren Nachkommen desselben Muttertieres. Das persistierende Virus wurde als ein BVDV-1f charakterisiert. Abgesehen von der Beschreibung persistierender Infektion in einer freilebenden Elenantilope (Tautragus oryx), handelte es sich zu diesem Zeitpunkt um den ersten Nachweis persistierender Infektion und vertikaler Transmission von BVDV bei einem exotischen Wiederkäuer, der die außerordentliche Gelegenheit bot, das Vorkommen der MD bei einem nicht-domestizierten Wiederkäuer experimentell zu untersuchen. Der Versuch umfasste eine mehrmals täglich stattfindende adspektorische Untersuchung sowie eine wöchentliche Inhalationsnarkose, während der der Kleinkantschil eingehend untersucht und Blut-, Nasensekret-, Speichel- und Kotproben sowie zweimalig Ejakulat gewonnen wurden. Am Tag 85 nach Beginn der Beobachtung erfolgte die experimentelle Infektion des PI Tieres mit dem aus Rehen isolierten und als BVDV-1c/1d identifizierten, zp BVDV SH9/11.

Bis 125 Tage post infectionem (p.i.) konnten keine klinischen Symptome einer MD beobachtet werden. Das inokulierte zp BVDV wurde, neben der kontinuierlichen Ausscheidung des persistierenden nzp BVDV, erstmals am Tag 29 p.i. in Leukozyten und Kot nachgewiesen. An den Tagen 70, 105, 112 sowie 125 p.i. konnte es im Speichel detektiert werden, am Tag 84 p.i. im Nasensekret. Während keine der vor experimenteller Infektion gewonnenen Blutproben neutralisierende Eigenschaften gegenüber den im Virusneutralisationstest eingesetzten BVDV-Stämmen besaß, erwiesen sich die an denTagen 35 und 42 p.i. entnommenen Proben als positiv gegenüber dem zur experimentellen Infektion eingesetzten Stamm SH9/11. Aufgrund einer hochgradigen, abszedierenden Periodontitis und Ostitis musste der Kleinkantschil 125 Tage p.i. euthanasiert werden. Auch während der postmortalen Untersuchung wurden weder makroskopisch noch mikroskopisch Läsionen gesehen wie sie in Anlehnung an die MD bei Hausrindern charakteristisch gewesen wären. Mittels spezifischer RT-PCR konnte die RNA des nzp BVDV in allen untersuchten Organen des Respirations-, Verdauungs- und Urogenitaltraktes, des Endokriniums, des ZNS, in der Haut, lymphatischen Organen, Muskulatur sowie Strukturen des Auges detektiert werden, während das inokulierte zp BVDV allein in Ohrspeicheldrüse, Pansen, Labmagen, Niere sowie im Ln. cervicalis superficialis des Kleinkantschils zu finden war. Via Immunhistochemie zeigte sich, dass das Verteilungsmuster innerhalb eines Organs den Beschreibungen der BVDV-Antigenverteilung bei persistierenden Infektionen von Hausrindern entsprach.
Zusammengefasst formuliert: nach Superinfektion eines PI Kleinkantschils mit einem partiell homologen zp BVDV-Isolat konnten weder klinisch noch pathomorphologisch Veränderungen einer MD beobachtet werden, jedoch kam es trotz Serokonversion auch nicht zur vollständigen Eliminierung des inokulierten zp BVDV. Somit kann die Möglichkeit eines späteren, über den Euthanasiezeitpunkt hinwegreichenden, Ausbruchs von „lateonset“ MD, wie er für das Hausrind beschrieben ist, nicht ausgeschlossen werden. Das Ausbleiben einer MD könnte jedoch auch Folge einer reduzierten Empfänglichkeit von Kleinkantschilen für BVDV sein. (Haus-) Rind und Schaf, für die MD bzw. MD-ähnliche Syndrome beschrieben sind, gehören taxonomisch zur Unterordnung der Pecora, während Kleinkantschile zu der phylogenetisch sehr alten Unterordnung der Tragulina gezählt werden. Möglicherweise bedingt eine im Vergleich zu den Bovinae oder Bovidae variierende zelluläre Disposition eine reduzierte Empfänglichkeit der Tragulidae, die persistierende Infektionen und damit den Status eines Übertragers von BVDV, ermöglicht, aber das Auftreten akuter Verlaufsformen und der MD verhindert.
Weiterhin wurde untersucht, ob die kursierende BVDV-Infektion einen Einfluss auf die abnehmende Populationsgröße von Kleinkantschilen in europäischen Zoos gehabt haben könnte. Durch das Studium von Zuchtbuch und veterinärmedizinischen Archivbefunden wurden Hinweise gefunden, die dem BVDV möglicherweise eine Rolle als prädisponierender Faktor für Misch- und Koinfektionen sowie bei der vergleichsweise hohen Mortalitätsrate unter Neonaten bei Kleinkantschilen zukommen lassen.
Die vorliegende Arbeit illustriert die Bedeutung, die BVDV auch bei in menschlicher Obhut gehaltenen exotischen Wiederkäuern haben kann. Auch wenn das Risiko einer direkten Infektion anderer Paarhufer durch Kleinkantschile sehr gering ist, ermöglicht die Infrastruktur vieler Zoos doch eine indirekte Verschleppung des BVDV, die zur Infektion anderer empfänglicher Spezies führen könnte. Es empfiehlt sich daher, innerhalb eines Zoos auf eine strikte Hygiene zu achten und alle Neuzugänge, die potenziell für BVDV empfänglich sind, im Rahmen der Quarantäne auch einer Screeninguntersuchung auf BVDV zu unterziehen.

 

semrau-biblio

Gelesen 7008 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 27 Juni 2018 06:51
© Peter Dollinger, Zoo Office Bern hyperworx