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SICKS, F. (2012)

Paradoxer Schlaf als Parameter zur Messung der Stressbelastung bei Giraffen (Giraffa camelopardalis).

Paradoxical sleep as parameter to measure stress in Giraffes (Giraffa camelopardalis).

Dissertation

267 Seiten

Neurobiologie Circadianer Rhythmen, Prof. Dr. G. Fleissner
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
Opel-Zoo Kronberg

Voller Text

Zusammenfassung:

Das Wohlbefinden von Tieren zu schützen ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben. Das Wohlbefinden eines Tieres wissenschaftlich zu bewerten ist jedoch eine bislang ungelöste Herausforderung. Die Biologie nähert sich dem Problem, subjektive Empfindungen eines Tieres objektiv darzustellen, vorrangig über die Messung der Stressbelastung. Die Stressantwort eines Organismus setzt sich allgemein aus einer Kombination von vier Systemen zusammen: einer Verhaltensreaktion, einer Antwort des vegetativen Nervensystems, einer neuroendokrinen Antwort und einer Immunantwort. Der in Zoologischen Garten am häufigsten untersuchte Parameter zur Messung der Stressbelastung ist die Analyse der Cortisolmetaboliten-Konzentration im Kot der Tiere. Da jedoch nicht in jeder Stresssituation das „Stresshormon“ Cortisol ausgeschüttet wird, ist es für eine exakte Bewertung der Stressbelastung notwendig, weitere Systeme der Stressantwort wie beispielsweise das Verhalten zu erfassen. Die Chronoethologie verfolgt diesen Ansatz, indem sie Änderungen des Zeitmusters im Verhalten eines Tieres als Antwort auf Veränderungen in der Umwelt oder eines endogenen Faktors erfasst und diese nach Kriterien derBefindlichkeit bewertet. Hier konnte zukünftig das Schlafverhalten eine herausragende Stellung einnehmen, da es von allen vier oben genannten Stressantwortsystemen beeinflusst wird. Zudem wird aus der medizinischen Schlafforschung berichtet, dass sich insbesondere die Dauer, die ein Organismus im Paradoxen Schlaf (PS) verbringt, durch Stress verändert. Dennoch fand das Schlafverhalten zur Messung der Stressbelastung bei Zoo- und Wildtieren bislang kaum Beachtung.

Ziel dieser Arbeit war es daher, die Anwendbarkeit des Paradoxen Schlafs als Parameter zur Messung der Stressbelastung bei Zoo- und Wildtieren zu erforschen, um letztlich die Beurteilung des Wohlbefindens von Tieren weiter zu objektivieren. Aufgrund ihrer einzigartigen Schlafstellung während des PS sowie ihrer hohen Sensibilität gegenüber Umweltveränderungen wurde die Giraffe (Giraffa camelopardalis) als Modelltier für diesen non-invasiven Forschungsansatz gewählt. Im Rahmen der Arbeit wurde in 9.675 nächtlichen Beobachtungsstunden (645 Nachten) das Schlafverhalten von 17 Giraffen unterschiedlichen Alters und Geschlechts beobachtet und analysiert. Um stressbedingte Veränderungen im PS-Muster erkennen zu können, wurden die Giraffen zunächst unter „Normalbedingungen“ beobachtet, um hieraus Referenzwerte zu generieren. Anschließend wurden unterschiedliche als stressintensiv einzustufende Situationen wie Nahrungsmangel, Transport, Veränderungen in der Herdenstruktur, Auswirkungen einer Geburt auf das Muttertier sowie verschiedene singuläre Ereignisse hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das PS-Muster der Giraffen untersucht und den Referenzwerten gegenübergestellt.

Um die Methode der Schlafbeobachtung als Parameter der Stressbelastung zu validieren, wurde zusätzlich ein bei Wiederkauern etablierter, bereits genannter Stress-Parameter eingesetzt: die Messung der Cortisolmetaboliten Konzentration im Kot mit Hilfe eines Enzymimmunoassays. Diese Methode wurde hier erstmalig an Giraffen angewendet. Durchschnittlich hielt eine Giraffe unter Normalbedingungen 27 Minuten pro Nacht paradoxen Schlaf. Dabei war die nächtliche PS-Dauer in hohem Maße vom Alter abhängig. Während juvenile Giraffen im Mittel 63 Minuten PS pro Nacht aufwiesen, verbrachten gealterte Giraffen nur 4,5 Minuten pro Nacht in der PS-Stellung. Infolge eines Stressors veränderte sich die PS-Dauer der Tiere: So zeigten alle vier transportierten Giraffen in den ersten Nachten nach ihrem Transport keinen PS oder stark reduzierte PS-Zeiten. Parallel erhöhte sich nach dem Transport die Cortisolmetaboliten-Konzentration im Kot aller Giraffen für mehrere Tage. Auch die untersuchten Veränderungen in der Herdenstruktur hatten in den meisten Fällen signifikante Veränderungen der PS-Dauer zur Folge. Die stärkste im Rahmen dieser Arbeit beobachtete Veränderung des Schlafverhaltens bewirkte der Tod eines Giraffenbullen: Die adulte Giraffenkuh Jaqueline hielt in der Folge für eine Dauer von 21 Tagen keinen paradoxen Schlaf mehr. Ihre Cortisolmetaboliten-Konzentration im Kot stieg nach dem Tod des Bullen hingegen nicht an. Die beobachteten Giraffenmutter zeigten nach der Geburt ihrer jeweiligen Jungtiere ebenfalls eine reduzierte PS-Dauer. Hingegen hatten neugeborene Giraffen, die an Nahrungsmangel litten und innerhalb weniger Tage verstarben, eine höchst signifikant längere PS-Dauer als gleichalte Jungtiere, die überlebten. Wahrend bei Nahrungsknappheit eine erhöhte PS-Dauer, wie sie bei den im folgenden verstorbenen Jungtieren beobachtet wurde, helfen kann Energie zu sparen, ist eine Reduktion der PS-Dauer, wie sie als Antwort auf die meisten anderen Stressoren beobachtet wurde, als Resultat erhöhter Aufmerksamkeit zu interpretieren, wie sie im Zuge der Feindvermeidung in Stress-Situationen sinnvoll ist. Zusammenfassend lasst sich feststellen, dass die PS-Dauer im Gegensatz zur Cortisolmetaboliten-Konzentration von allen beobachteten Stressoren beeinflusst wurde. Dabei veränderte sich die PS-Dauer in Abhängigkeit des jeweiligen Stressors graduell unterschiedlich, was Ruckschlusse auf die Intensität des Stressors ermöglicht. Weiterhin wird eine hohe Sensibilität des Parameters PS-Dauer durch dessen in Folge eines Stressors beobachtete bi-direktionale Veränderlichkeit begünstigt.

Der Paradoxe Schlaf ist infolge dieser Ergebnisse hervorragend als Parameter zur Messung der Stressbelastung bei Giraffen geeignet. Die Analyse des Paradoxen Schlafs kann dabei helfen, die Auswirkungen von subjektiv als stressintensiv oder stressarm eingestuften Situationen auf das Wohlbefinden eines Tieres objektiv zu bewerten. Darüber hinaus ermöglicht die kontinuierliche Überwachung des PS-Musters, z.B. mit Hilfe moderner Videosoftware, Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, wie sie beispielsweise durch Unterernährung, Verletzung oder Krankheit hervorgerufen werden, frühzeitig zu erkennen, was ein zeitnahes Eingreifen zum Wohle des Tieres möglich macht.

Abstract:

The well-being of animals is established in the German constitution. To evaluate well-being of an animal scientifically is a not yet solved challenge. The biology tries to solve this problem by describing subjective perceptions of an animal objective while measuring stress. The stress reaction of an organism is composed of four systems: behavioral reaction, response of autonomic nervous system, neuroendocrine response and immune reaction. In often in zoo used parameter to measure stress is the analysis of Cortisol-metabolite concentration in animal feces. Not each stressful situation causes the release of the stress hormone Cortisol. For an accurate evaluation of stress it is necessary to acquire additional data of the other stress reaction systems, for example behavior. Chronoethology traces this approach, while changes of the behavioral pattern caused by changes in environment or endogenous factors were recorded and evaluated according to criteria of well-being. The sleeping behavior could be of outstanding importance, because it is influenced by all four stress response systems. Furthermore there are reports from the medical sleep research that an organism reduces the duration of paradoxical sleep (PS) when it is stressed. 

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© Peter Dollinger, Zoo Office Bern hyperworx