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ROBIN, N. P. (1979)

Zum Verhalten des Kleinkantschils (Tragulus javanicus OSBECK 1765).

Dissertation

162 Seiten

Philosophische Fakultät II der Universität Zürich
Begutachter: Prof. Dr. H. Hediger, Universität Zürich, Prof. Dr. K. Immelmann, Universität Bielefeld, Prof. Dr. B. Tschanz, Universität Bern, Prof. Dr. F. Walter, Texas A&M University, Prof. Dr. R. Wehner, Universität Zürich
Zoo Zürich
Artis (Zoo Amsterdam)

Zusammenfassung:
Von Dezember 1974 bis Ende Jahr 1977 beobachtete ich Kleinkantschile (Tragulus javanicus) in den Zoos "Artis" (Amsterdam) und Zürich mit dem Ziel, ein möglichst vollständiges Ethogramm und Angaben über das Sozialverhalten zu erarbeiten.

Erhebliche Schwierigkeiten während der Beobachtungen bereiteten die teilweise extrem schnellen Verhaltensabläufe. Als technische Hilfsmittel kamen Fot-, Film-, Video- und Tonbandaufnahmen zur Anwendung. Im Laufe der Arbeit drängte sich eine grobmorphologisch-anatomische Untersuchung verschiedener Körperteile auf.

  1. Bezogen auf die Tag-Nachtaktivität sind Kleinkantschile polyphasisch
  2. Die grobmorphologisch-anatomischen Untersuchungen ergaben folgende Ergebnisse: Männchen von T. javanicus verfügen über verlängerte Canini sup., die während des ganzen Lebens wachsen und deren Spitzen in reich strukturierter Umgebung in unregelmässigen Abständen abbrechen. Als anatomische Exklusivität besitzen Männchen einen knöchernen Rückenschild, der sich zusammensetzt aus einer das Becken bedeckenden Knochenplatte und den daran anschliessenden verknöcherten Sehnen, die im Bereich der Scapulae enden. Die Haut beider Geschlechter ist in der Beckenregion zu einem Dermalschild umgebildet. Sowohl Rücken- wie Dermalschild stehen in keinem Zusammenhang mit dem aggressiven Verhalten. Der Erstere stützt die Männchen während der Kopulation und der Dermalschild schützt den Rücken während schneller Lokomotion in dichter Vegetation. Im Zusammenhang mit dem Markierverhalten wurden am Analpol von Männchen "4" verschiedene Drüsenformationen (Paraproktodäal-, Proktodäal-, Subcaudal- und Hodenfelddrüsen) und ausserdem eine Präputialdrüse gefunden.
  3. Im soziopositiven Verhalten werden Elemente der geruchlichen Kontaktnahme überwiegend an den Kopf-, Anal-, Inguinal- und Flankenzonen geäussert.
  4. Im aggressiven Verhaltenskreis wenden Kleinkantschile ranganzeigende Element, in ihrer Intensität abgestufte aggressive Verhaltensweisen und entsprechende Antwortverhalten an. Unter den Letzten sind besonders die Fluchthemmung während des Gebissenwerdens und das als Ausdruck sozialer Belästigung interpretierte Mundwinkelziehen zu erwähnen. Die Männchen greifen überwiegend frontial, die Weibchen lateral an. Verletzungen während aggressiver Interaktionen sind Ausnahmen.
  5. Im Zusammenhang mit dem Markierverhalten ist die bei Männchen um ein Mehrfaches grössere Interramaldrüse hervorzugeben. Spezielle Verhaltensweisen zur Deponierung von Geruchsstoffen zeigen nur Männchen, die dazu das Element Interramaldrüsenmarkieren an Gegenständen und am Partner sowie das unter Wiederkäuern einmalige Analfeldmarkieren einsetzen. Die Defäkation erfolgt örtlich geballt, die Miktion mehr oder weniger lokal. In Ausnahmesituationen steigen die Frequenzen des Interramaldrüsenmarkierens signifikant, jene des Analfeldmarkierens teils gesichert. Bei der Konfrontation zweier Männchen markierte der dominante häuifiger und der submissive stellte die Markiertätigkeit ein.
  6. Bei Erregung trommeln beide Geschlechter, die Männchen wetzen zudem mit den Zähnen. Analfeldmarkieren gehört ebenfalls in den Motivationskreis des Arousals.
  7. Im Sexualverhalten tritt als häufigstes Werbeelement des Männchens Interramaldrüsenmarkieren am Partner auf. Beide Geschlechter trinken Harn des partners. Nur die Männchen flehmen. Infantilismen sind die Elemente Saugen durch die Männchen sowie das Hochhalten einer Hinterextremität des Männchens, während ein Weibchen Harn trinkt. Die Werbephase des Männchens am voröstrischen Weibchen ist lang und heftig, jene am hochöstrischen kurz und ruhiger. In der Werbung treten aggressiv getönte (Hochmachen des Weibchens durch das Männchen, Schnauben) und aggressive Elemente auf (Beissen in den Kopf). Geglückte Kopulationen dauern für Ruminantia sehr lange (Durchschnitt 233.5 Sek.). Postkopulatorisches Verhalten beschränkt sich auf Elemente des Komfortverhaltens. Nach langen Kopulationen dauert die Refraktärzeit eine knappe Stunde.
  8. Akustisch äussern sich Kleinkantschile mittels hohen Fieplauten (zwischen 1 und 16 khz), die vorwiegend zwischen Mutter und Jungtier ausgetauscht werden.
  9. Die Tragzeit von T.javanicus beträgt 139 bis 141 Tage. Der Kleinkantschil ist unipar. Weibchen sind regelmässig postpartum östrisch.
  10. Allen Traguliden ist im Mutter-Kind-Verhalten die Säugeposition im Stehen mit einer hochgehobenen Hinterextremität eigen. In einem natürlich bepflanzten grossen Käfig sucht in der 1. Lebenswoche die Mutter ihr Junges zum Säugen auf, später ist das Jungtier der Initiant. Im gleichen Käfig unterbricht überwiegend das Muttertier das Säugen. In einem kleinen Käfig weichen die entsprechenden Ergebnisse ab. Anogenitalpflege durch die Mutter ist bei T.Javanicus nicht simultan mit dem Säugen. Von der 2. Lebenswoche an lockt die Mutter ihr Junges mit dem Element Säugeverweigern an einen optisch geschützten Platz, um es dort saugen zu lassen. die Säugedauer ist lang (Mittelwerte zwischen 185 und 350 Sek.). Die Laktationszeit beträgt 10 bis 13 Wochen.
  11. Bei der Verteilung der sozialen Elemente in einer etablierten Kleinkantschilgruppe ergaben sich folgende Resultate: Bei den soziopositiven Geruchskontakten bevorzugt das Männchen das sich regelmässig fortpflanzende Weibchen, das seinerseits das Männchen als Rezeptor für Nasen-Kopf- und Inguinalkontakte vorzieht. Für das Muttertier ist ihr Junges wichtigster Rezeptor für Naso-anal-Kontakte. Das sich nicht fortpflanzende adulte Weibchen ist selten Rezeptor von Geruchskontakten. Es führt als Aktor wenige Nasen-Kopf-Kontakte und etwas zahlreichere Naso-anal-Kontakte an allen Mitgliedern der Gruppe in etwa gleichem Mass aus. Das Jungtier riecht häufig am Kopf aller Mitglieder, wesentlich seltener am Analpol, wo das Männchen bevorzugt wird, und nimmt in sehr zahlreichen Fällen Kontakt auf mit der Inguinalzone der Mutter. Das Männchen verhindert Nasen-Kopf-Kontakte des sich nicht fortpflanzenden Weibchens.
    Beim Interramaldrüsenmarkieren am Partner ist das sich regelmässig fortpflanzende Weibchen der einzige Rezeptor von Bedeutung.
    Aggressive Elemente werden in überwiegender Zahl vom Männchen ausgesandt. Als Rezeptor nimmt das sich nicht fortpflanzende Weibchen den ersten Rang ein. Dieses und das Jungtier sind nie Aktoren im aggressiven Verhalten, das Jungtier nur ausnahmsweise Rezeptor.
    die Verteilung der Elemente des Sozialverhaltens auf die Gruppenmitglieder lässt vermuten, dass T.javanicus die Tendenz hat, paarweise zu leben.
  12. Verglichen mit dem Verhalten der Suiden, Tayassuiden und höherer Artiodactyla nimmt T.javanicus zusammen mit den übrigen Traguliden eine Zwischenstellung ein, weist aber z.B. im Bereich des Markierverhaltens erhebliche Spezialisierungen auf.
  13. Insgesamt werden 51 Elemente ausführlich beschrieben und ein grosser Teil im Bild vorgestellt. Weitere Verhaltensweisen sind erwähnt.

 

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© Peter Dollinger, Zoo Office Bern hyperworx